Die Corona-Massenansteckungen im Fleischkonzern Tönnies zeigen: Über Industriearbeit unter Pandemie-Bedingungen ist bei uns bislang viel zu wenig diskutiert worden. Doch sind solche Vorkommnisse eigentlich unausweichlich? Unsere Autorin hat während des Lockdowns in einem Kernkraftwerk gearbeitet und zeigt in ihrer Reportage, was die Atomindustrie besser machte.

Während alle Masken tragen, reißt die CoViD19-Krise unseren industriellen Verhältnissen die Maske vom Gesicht. Die jahrelang geduldeten krassen Ausbeutungsverhältnisse in der Fleischindustrie, die an frühkapitalistische Zustände erinnern, haben sich zu einer Art institutionalisiertem Super-Spreader entwickelt. Zu den begünstigenden Faktoren gehören die Leih- und Vertragsarbeit in verschachtelten Subunternehmens-Strukturen, die Wohnverhältnisse der Arbeiter sowie die harte körperliche Arbeit in beengten Verhältnissen. Aber müssen solche Faktoren unausweichlich zur Ansteckung führen? 

Systemrelevante Industrien

Lebensmittelindustrie und Energieversorgung sind beide systemrelevant, aber nur in der Energiebranche kennt man routinisierte Vorsorgemaßnahmen für Krisen. Kraftwerke haben Notfallpläne für Naturkatatrophen und Unfälle. Sogenannte high reliability organisations wie Kernkraftwerke zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen der rasche Übergang aus dem Normal- in den Krisenmodus regelmäßig trainiert wird – und dass sie organisatorische Vorkehrungen wie Bereitschaftsdienste und Notfallpläne haben, die rasch aktiviert werden können. Ich habe während des Lockdowns eine Zeitlang in einem deutschen KKW gearbeitet. Der Aufenthalt war lange geplant gewesen und hatte eigentlich einen ganz anderen Gegenstand. Nun wurde ich nebenbei zur Beobachterin eines systemrelevanten Betriebes im Auge des Krisensturms.

KKW-Revision unter Lockout-Bedingungen

Das KKW Grohnde liegt im Weserbergland, nicht weit weg von den westfälischen und niedersächsischen Fleischindustrie-Zentren, die nun in die Negativschlagzeilen geraten. Grohnde wurde mit voller Wucht vom Lockdown getroffen, weil es im jährlichen Revisionszyklus der deutschen Atomanlagen am Anfang steht. Die Revision ist der jährliche geplante Anlagenstillstand für Brennelementwechsel und Wartungsarbeiten. In der Nacht auf Ostersonntag, den 12. April, sollte die Anlage abgefahren werden. 

Zu Beginn des Lockdowns Ende März hatte man noch keine konkreten Informationen aus der regionalen Verwaltung, wie denn zu verfahren sei, und ging zunächst von den geplanten 21 Arbeitstagen aus. Die Firmen waren gebucht, die erforderlichen Mannstunden minutiös berechnet. In einem KKW ist Zeit Geld, jeder Stillstandstag bedeutet eine Produktionseinbuße im Gegenwert von rund einer Million Euro.

Im Leistungsbetrieb arbeiten rund 500 Menschen auf der Anlage, während der Revision sind zeitweise über 1000 Menschen zusätzlich dort, darunter auch viele Vertragsarbeiter. Die Servicefirmen-Monteure beziehen Unterkünfte in Pensionen und Monteurswohnungen, häufig auch zu mehreren in einer Unterkunft, um Geld zu sparen; etliche reisen im eigenen Caravan an und wohnen auf dem Parkplatz unter den Kühltürmen. 

Das Eigenpersonal hatte Grohnde bereits seit Anfang März im Krisenbetrieb: wer konnte, ging ins Home Office, die Werkstätten arbeiteten mit reduzierter Belegschaft. Die Betriebsschichten wurden streng von den anderen Mitarbeitern isoliert, es herrschte Maskenpflicht, um das lizenzierte Personal, ohne das die Anlage nicht betrieben werden kann, vor Ansteckung zu schützen. Aus dem Urlaub zurückgekehrte Kollegen mussten sich Corona-Tests unterziehen, zwei positiv Getestete mussten deswegen in häusliche Quarantäne, niemand erkrankte. Auch rund vierzig weitere Personen, die im Kontakt mit den beiden gewesen waren, wurden vorsorglich in Quarantäne geschickt.

Im Corona-Sturm

Am 27. März forderte Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Grünen und Vorsitzende des Bundestags-Umweltausschusses, in einem Schreiben an die zuständigen Ministerien, Anlagen wie Grohnde wegen Corona sofort vom Netz zu nehmen: 

„Nun stehen im April und Mai dieses Jahres die jährlichen Revisionen der Atomkraftwerke Grohnde und Emsland bevor, bei denen Hunderte von externen Fachkräften über mehrere Wochen hinweg in den Anlagen Brennelemente austauschen und zahlreiche Inspektionen und Instandhaltungsarbeiten durchführen werden. Das Risiko, dass die AKW zu Hotspots einer weiteren Verbreitung des Corona-Virus würden, ist unangemessen und unnötig. Ich bitte Sie, dieses Risiko abzuwenden. Die deutschen Atomkraftwerke sind unter den gegebenen Bedingungen weniger denn je systemrelevant.“

Sylvia Kotting-Uhl (Grüne)

Die niedersächsische Landesregierung folgte Kotting-Uhl nicht. Doch nun kamen die Auflagen des Gesundheits- und Sozialministeriums für die Grohnde-Revision: Immer nur 100 Personen durften in den ersten zwei Wochen zur selben Zeit zusätzlich auf der Anlage arbeiten, später wurden 250 Personen zugelassen. Das hatte eine Streckung der Revision von 21 auf 42 Arbeitstage zur Folge. Den zugereisten Arbeitern war es verboten,  im Ort einzukaufen. Alle zur Revision anreisenden Monteure mussten einzeln untergebracht werden. Das Parkplatz-Camping wurde untersagt. Für die Kosten musste die die Betreiberin des KKW aufkommen, die zum E.on-Konzern gehörige Preussenelektra.

Besonders das Einkaufsverbot sorgte bei den entsendeten Monteuren für großen Unmut. Dieser Punkt war wahrscheinlich einer der heikelsten in dem gesamten Arrangement, forderte hier doch eine Landesbehörde implizit vom Kraftwerk, sicherzustellen, dass seine Auftragnehmer, die Servicefirmen, das Leben ihrer Angestellten nach Feierabend reglementierten. Mir ist kein anderer Fall einer derart weitreichenden Auflage für einen systemrelevanten Betrieb bekannt. Das KKW fügte sich und richtete innerhalb seines Geländes einen Tante-Emma-Laden ein, um die Leute mit dem Nötigsten für den Feierabend zu versorgen. Tagsüber gab es Vollverpflegung aus der Kraftwerksküche.

Ab Mitte April verwandelte sich das Kraftwerk unter immensem logistischen Aufwand in eine Art Corona-Feldlager. Auf dem gesamten Gelände, auch draußen, herrschte strenge Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Schon auf dem Parkplatz vor dem Aussteigen aus dem Auto war die Maske anzulegen. Auf den Info-Monitoren überall im Kraftwerk liefen Tutorials über den richtigen Umgang mit der Mund-Nasen-Bedeckung. Die Betriebskantine wurde umgeräumt, sodass gleichzeitig nur immer 30 bis 50 Personen mit zwei Metern Mindestabstand Platz nehmen konnten. Die Fahrschicht bekam einen abgetrennten Essbereich, für das Servicepersonal wurden ein gesondertes großes Kantinenzelt und zusätzliche provisorische Sanitäranlagen errichtet, sodass eine große Anzahl Menschen zügig und unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneauflagen verpflegt werden konnte. 

Die Anlage betreten durfte nur, wer negativ auf CoViD-19 getestet wurde. Jeder Neuankömmling wurde am Werkstor von einem Willkommens-Team empfangen, das OP-Masken ausgab und die Eincheck- und Testprozedur erklärte. Die Neuen wurden auf einem abgesperrten Weg zum „Haus am See“ gelotst, einer Blockhütte inmitten einer zum KKW gehörigen Grünanlage, wo normalerweise Betriebsfeste gefeiert werden. Das Häuschen diente nun als provisorisches Virustestzentrum. Mich erwartete ein Arzthelfer in Vollmontur, wie ich sie normalerweise nur bei radioaktiven Baustellen im Kontrollbereich kannte. Abstrich, Papierkram, Telefonnummer hinterlassen, fertig. Das Ergebnis wurde am folgenden Morgen mitgeteilt. 

Arbeitsalltag unter Krisenbedingungen

Auf diese Weise hat Grohnde im Zeitraum von zwei Monaten alle in dieser Zeit auf der Anlage zum Einsatz gekommenen Personen auf das Virus testen lassen – ohne einen positiven Befund. Erst nach Testurteil „negativ“ wurden die Werksausweise freigegeben, sodass gesichert war, dass niemand ohne negatives Testergebnis den Sicherheitsbereich des Kraftwerks betreten konnte. Doch auch nach dieser Freigabe konnte man nicht einfach einreiten, sondern musste täglich am Eingang zur Fiebermessung antreten und eine Erklärung über die privaten Kontakte der Vergangenheit unterzeichnen. Außerdem mussten wir während unseres Aufenthalts auf der Anlage und 14 Tage darüber hinaus ein Kontakttagebuch führen. Mein Tagebuch umfasste am Ende rund drei Dutzend Kontakte vom Betriebsschlosser und Elektriker bis zu Kraftwerksleitung und Atomaufsicht.

Wie sah es drinnen aus? Im Verwaltungsgebäude tagte während der Krisen-Hochzeit allmorgendlich, später zweimal pro Woche der hauseigene Krisenstab unter Leitung des obersten Strahlenschützers. Dieses Gremium stand in ständigem Kontakt zum Unternehmenskrisenstab der Preussenelektra in Hannover. Es erarbeitete und aktualisierte den Pandemieplan, insbesondere die technischen Vorkehrungen zum Abstandhalten, legte die Laufwege im Betriebsgelände fest, organisierte die Test- und Catering-Logistik. Diese wiederum wurde durch eine Vielzahl speziell zu diesem Zweck eingestellter Dienstleister umgesetzt. 

Im Schaltanlagengebäude wurde Einbahnstraßenverkehr eingeführt, ein Treppenhaus nur zum Rauflaufen, eins für die Gegenrichtung, sodass sich keine Wege kreuzten. Die Glastür zur Kraftwerkswarte war gespickt mit einschüchternden Warnschildern, die kurz gefasst besagten, dass sich jeder genau überlegen sollte, ob sein Anliegen so wichtig sei, dass es ein Betreten der Räumlichkeiten unerlässlich mache. Schlüsselausgabe und Übergabe von Arbeitsaufträgen erfolgte über Durchreicheschlitze vor der Warte und am plexiglas-verbarrikadierten Schichtleitertisch. Die Schichtbesprechungen und Prejob-Briefings fanden nicht wie sonst in enger Runde, sondern auf die Tiefe des Raums verteilt statt – zum Glück sind deutsche KKW-Warten im Vergleich zu ihren osteuropäischen Gegenstücken so geräumig, dass sich auch dann keiner aus Versehen auf ein Schaltpult setzt. Und wir alle steckten die ganze Schicht lang, das geheiligte Kaffeetrinken ausgenommen, unter unseren OP-Masken. Im Kontrollbereich waren diese schnell durchgeschwitzt, beim Strahlenschutz konnte man sich neue holen.

Bei der Wartung eines Kernkraftwerks ist es häufig sehr eng für die Monteure. Die Räume sind vollgepackt mit Ausrüstung und abgestellten Teilen von Isolierungen und auseinandergenommenen Komponenten, man muss sich neben, unter, über Leitungen und Armaturen durchzwängen, auf Steigleitern klettern. Wenn ein Team von mehreren Leuten sich gegenseitig bei schweren Arbeiten assistieren muss, ist der Sicherheitsabstand von 1,5 Metern nicht einhaltbar, vor allem, wenn man zur selben Zeit außerdem noch die üblichen Abstandsregeln zu Komponenten mit hoher Ortsdosisleistung einhalten muss. Auf der anderen Seite wurden dank der Stretch-Revision die Arbeiten entzerrt. An Orten, wo sich die Leute in normalen Revisionen gegenseitig auf die Füße treten, herrschte Ruhe wie sonst nur in der Nachtschicht. Das Tragen von Atemschutzmasken sind die Profis des Kontrollbereichs sowieso gewohnt wie Chirurgen im OP. Für enge Arbeitssituationen wurden die besonders sicheren FFP3-Masken ohne Ausatemventil vorgehalten. 

Wer den Applaus verdient

Was die Insider als positiv empfanden, war die erzwungene Entschleunigung, die den bei Revisionen häufigsten Stressfaktor, den Termindruck, aus dem Spiel nahm. Gemütlich machte meine Schicht an einem Samstagnachmittag Ende Mai den Reaktor kritisch, die Physik führte die Nullleistungsversuche durch. Sanft und stressfrei wurde die Anlage in der folgenden Nacht bei 23 Prozent Reaktorleistung wieder ans Netz gehängt, zügig auf Last gebracht, die Leittechniker kalibrierten die Reaktorinstrumentierung. Während das Land sich allmählich aus dem Lockdown heraustastete, fuhr Grohnde Volllast zur Brennstoffkonditionierung.

Es wurde sehr viel geklatscht und gelobt in den zurückliegenden schweren Wochen. Das KKW Grohnde, das unbeachtet und unbeklatscht die Krise überstand und die Allgemeinheit mit Strom versorgt, wäre einen Applaus wert gewesen. Die Grüne Kotting-Uhl, die den Verdacht ausgesprochen hatte, Kernkraftwerke könnten zu Corona-Hotspots werden, hat erwartungsgemäß nicht applaudiert. Während sie mit dem Finger auf ihren Lieblingsfeind zeigte, entwickelte sich die Fleischindustrie zum Hotspot.

Die politisch Verantwortlichen in diesem Land sollten sich also zwei Fragen stellen: Erstens, warum die harten Auflagen, die Grohnde gemacht wurden und die der Betrieb erfolgreich umsetzte, nicht auch in anderen Branchen durchgesetzt wurden, in denen der Anteil mobiler Arbeitskräfte hoch ist. Zweitens sollten die Entscheider sich überlegen, ob wir es uns leisten können, auf Organisationen zu verzichten, die solche Auflagen reibungslos umsetzen können und sich als krisenresilient erweisen. Die Atomwirtschaft hat sich in der Krise durch ein Höchstmaß an Versicherheitlichung ausgezeichnet und viel Geld in den Schutz ihrer Mitarbeiter und Vertragsarbeiter investiert. 

Eigentlich könnten die deutschen Kernkraftwerke nun ihr Erfahrungswissen bei der Eindämmung der Pandemie an andere Industriebetriebe weitergeben. Nebenbei produzieren die sechs verbliebenen deutschen Anlagen jährlich soviel Strom wie die gesamte Braunkohlewirtschaft Nordrhein-Westfalens, und das tun sie CO2-arm. Sie sind also auch unter Klimaschutz-Anforderungen überaus systemrelevant.