Ein Essay über den 7. Oktober, über Israel, Hamas-Sympathisanten und die Optionen auf Frieden.

Acht Stunden, gerade einmal acht Stunden hat Israel im Frieden gelebt. Von der Ausrufung des Staates am frühen Abend des 14. Mai 1948 bis zur Kriegserklärung von sechs arabischen Staaten in der Nacht konnte es keine großen Gründungsfeiern geben, denn es war Schabbat, der jüdische Ruhetag. Der folgende erste Unabhängigkeitskrieg Israels, der Gebietsgewinne für das Land mit sich brachte, endete zwar im Januar 1949, doch der Krieg war damit nicht zu Ende; er ist es bis heute nicht. Es gab in den mehr als 76 Jahren immer wieder Ruhephasen, Jahre ohne direkte Kampfhandlungen – nennen wir es einen kalten Krieg, einen negativen Frieden oder ein Ungeheuer, das bloß schläft –, aber keinen Frieden, der mit einer gewaltfreien und unbekümmerten Zukunft in Verbindung zu bringen wäre, denn es galt und gilt bis zum heutigen Tag, dass Israel von seinen Feinden jedes Existenzrecht abgesprochen wird und von Eliminierung bedroht wird. Sich dies klar zu machen ist die ursächliche Bedingung, um das Blutvergießen in dem Gebiet, das wir Palästina nennen, zu verstehen. Wer zu diesem Punkt nicht zurückgehen will, wer diese Voraussetzung zur Bewertung der blutigen Kämpfe gestern und heute nicht akzeptieren will, wer den unablässigen Hass gegen die Juden und ihren Staat als Triebkraft hinter dem schier endlosen Krieg bezweifelt, der braucht hier auch nicht weiterlesen. Er verpasst ein Nachdenken über den 7. Oktober, eine Kritik an der israelischen Regierung und einige Überlegungen über die Zukunft des Nahen Ostens.

DIE VIER WELLEN

Das Auslöschen der Erinnerung an Verbrechen ist heute allererste Maxime der Kriegsführung. Doch es bleiben die Fakten, die immer wieder genannt werden müssen: Am Schabbat des 7. Oktober 2023, ab 6 Uhr 29, hageln aus Gaza innerhalb weniger Minuten Hunderte von Raketen auf Israel. Am heftigsten trifft es den Grenzbezirk zum Gazastreifen. Durch gezielte Attacken wird das gesamte israelische Überwachungs- und Verteidigungssystem lahmgelegt, Hunderte bewaffnete Kämpfer einer Eliteeinheit der Hamas stürmen aus verborgenen Tunnelöffnungen, überwinden und zerstören die Grenzzäune. Danach folgen Tausende Kämpfer der Qassam-Brigaden und brechen auf Pick-ups und Motorrädern auf israelisches Gebiet durch. Das Morden beginnt. Das Vergewaltigen. Das Verstümmeln.

In dieser ersten Welle sind es israelische Soldaten, die überrascht und getötet werden, dann Menschen, die die Nacht am schönen Strandstück nahe der Grenze zum Gazastreifen verbracht haben, danach Feiernde auf dem Supernova-Festival, die vom Tanzen noch nicht genug haben und die der Person an dem Gleitschirm, der plötzlich über ihnen auftaucht, zuwinken, weil sie es für eine coole Aktion halten, die zum Festival-Programm gehört. Tatsächlich ist das einer der palästinensischen Kämpfer, der dem ersten Stoßtrupp Signal gibt, dass auf dem Festivalgelände reichlich Beute zu machen ist. In dem nun folgenden Gemetzel sterben Hunderte der Feiernden, sie werden niedergemäht und vergewaltigt, etliche werden als Geiseln entführt.

In einer zweiten Welle rücken Kämpfer der Hamas in die Kibbuze im Hinterland der Grenze ein. Sie treffen auf überraschte Einwohner und Polizisten. Auch dort quälen, vergewaltigen und morden sie wahllos: Kinder vor den Augen ihrer Eltern, Eltern vor den Augen ihrer Kinder. Auch Tiere werden nicht verschont, die Auslöschung soll vollständig sein. Alles wird schön ordentlich mit Bodycams dokumentiert und in die gefräßigen Kanäle sozialer Medien gespeist. Für manche Grausamkeiten gibt es keine Worte, aber Bilder en masse.

Gegen Mittag beginnt die dritte Welle: Unzählige Einwohner des Gazastreifens, also eigentlich Zivilisten, stürmen in ihren Autos, auf Mopeds oder zu Fuß über die Grenze und beteiligen sich an den Morden, Vergewaltigungen, Misshandlungen. Bewaffnet sind sie mit Dingen, die ein Haushalt hergibt: Messer, Heugabeln, Werkzeuge. Sie nehmen Geiseln und füllen ihre mitgebrachten Taschen mit Beute; zurück in Gaza werden sie jubelnd empfangen. In den Kibbuzen brennen Häuser, viele der Leichen sind mit Sprengfallen versehen. Nach rund 24 Stunden ziehen die letzten Kämpfer der Hamas ab, mit der vorrückenden israelischen Armee in Kämpfe verwickelt.

Dann beginnt die vierte Welle. Europa und Nordamerika sind aufgewacht, und Palästinenser verteilen dort aus Freude über den Tod von über Tausend Juden Süßigkeiten auf den Straßen. Wer es nicht vergessen hat, der erinnert sich in diesem Moment an die Jubelfeiern in der islamischen Welt nach dem 11. September 2001; an diesem Tag wurden durch einen Al-Qaida-Anschlag mit vier Passagiermaschinen in den USA rund drei Tausend Menschen ermordet. Jetzt, am 8. Oktober 2023, beginnt die Hisbollah im Libanon nach einer Zeit der Ruhe wieder den Norden Israels mit Raketen zu beschießen; sie wird damit nicht aufhören. Al Jazeera, der reichweitenstarke katarische Sender, bringt ein Video, in dem ein entführter Vater und seine Kinder von der Hamas auf dem Weg nach Gaza freigelassen werden. Diese Szene wird fortan als Beleg dafür dienen, wie human sich die Hamas bei ihrem Überfall gegenüber Zivilisten verhalten hat. Zu diesem Zeitpunkt sind schon viele israelische Geiseln in den Häusern und Tunneln Gazas verschwunden, nachdem sie als Trophäen auf den Straßen präsentiert wurden. Die ersten Influencerinnen stoppen ihre Schminktipps auf TikTok und anderen sozialen Medien und verbreiten stattdessen die Nachricht, dass die Hamas Israelis nicht entführt hat, sondern die Menschen wegen deren Verletzungen, die die israelische Armee verursacht haben soll, in palästinensische Krankenhäuser verbracht wurden. Es habe auch keine Vergewaltigungen gegeben, sollte dies jemand behaupten. Gleichzeitig sind die Gräueltaten der Hamas für die, die sie sehen wollen, im Netz verfügbar. Wer sie sieht, solle sie als Heldentaten verstehen, als berechtigten Widerstand von Unterdrückten gegen ihre kolonialistischen Peiniger. Der vermeintlich Unterdrückte tut ja immer recht. Weil dem vielleicht nicht alle folgen wollen, bringt man zur Sicherheit etwas anderes ins Spiel: Die ersten Stimmen warnen vor einer Eskalation und einem Völkermord durch die Israelis in Gaza. Damit ist der Ball auf dem Feld. Fortan ist der Völkermord sichere Sache. Es sind vor allem westliche Intellektuelle, die den Ball aufgreifen und unentwegt vom Völkermord reden, noch bevor auch nur ein Panzer sich auf den Weg in den Gazastreifen gemacht hat. Auf Demonstrationen im Westen bekommt das Wort seinen sicheren Platz, gleich neben den Davidsternen, die mit Hakenkreuzen verziert werden und dem Wunsch nach dem Tod aller Juden. Aber Antisemitismus findet natürlich nicht statt. Das sei alles berechtigte Kritik von Ungehörten, denen die Diskursräume verwehrt werden, die nichts sagen dürfen und fortan eine Demonstration nach der anderen veranstalten, auf denen sie, wie die Querdenker, behaupten, dass sie nichts sagen dürfen. Die Hamas in Gaza beschießt auch weiterhin Israel. Viele Universitäten im Westen werden zu Kampfzonen um die – bleiben wir im akademischen Jargon – „Diskurshoheit“. Zum Kampf gehören Attacken gegen jüdische Studenten und Wissenschaftler; Diskussionsveranstaltungen mit Beteiligung von Juden oder Hamas-Kritikern werden systematisch gestört. Wenn sie von der Polizei geschützt werden und diese das Ordnungsrecht gegen Blockierer und sehr lautstarke Krawallmacher durchsetzen, wird das gefilmt und in den gefräßigen sozialen Medien wie TikTok etc. als Beleg angeführt, dass in Deutschland der Faschismus herrscht. Bilder von den Geiseln, die an Wänden angebracht werden, um an ihr Schicksal zu erinnern, werden innerhalb kürzester Zeit und mit großem Eifer wieder abgerissen. Natürlich wird auch das vertiktokt, so wie es die Propagandisten der Hamas und des Iran mit Videos von Hinrichtungen und martialischen Hamas- und Hisbollah-Kämpfern machen. Immer mittendrin in den Palästina-Demonstrationen: LGBTQ-Aktivisten; unvergessen das Transparent in Regenbogenfarben und dem Akrostichon „Let’s Go Bomb Tel-Aviv Quickly“. Wie im Vorbeigehen verwüstet man Teile von Universitätsgebäuden, Andersdenkende und Juden werden mit dem roten Dreieck, dem Erkennungszeichen der Hamas, markiert. Wenn keine Farbe zur Hand ist, bildet man das Dreieck auf den Demonstrationen mit vier Fingern. Es soll ja keiner missverstehen, für wen man den ganzen Aufwand ständiger Demonstrationen, medialer Intifada und Brandanschläge auf jüdische Lokalitäten betreibt. Derweil machen linke Intellektuelle das, was sie immer machen: Sie verharmlosen Antisemitismus, stellen sich auf die Seite von aggressiven Universitätsbesetzern und denken sich neue Worte aus, mit denen man Israel dämonisieren kann. Am besten sie enden mit -zid (von lat. „caedere“, töten), weil Genozid nicht reicht und sich möglicherweise abgenutzt hat, aber das „Töten“ erhalten bleiben muss, daher: Ubizid, Scholastizid, Ecozid usw.

Allerdings, das muss man sagen: Der ist herzlos, dem die vielen Opfer auf palästinensischer Seite gleichgültig sind; und verblendet ist der, der die Schuld für die vielen Toten nicht in erster Linie bei der Hamas sieht. Denn alle Toten, wirklich alle würden noch leben, hätte es den 7. Oktober, hätte es den Angriff auf Israel nicht gegeben. Derweil die UNO wie gewohnt Israel ermahnt und für die Eskalation verurteilt.

Wirklich bemerkenswert und beängstigend zugleich ist die Tatsache, dass sich also wie auf Knopfdruck im Westen eine Kampagne gegen Israel initiieren lässt. Da gab es einen in drei Wellen generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Angriff, ein Massaker mit über Tausend Ermordeten, einer Geiselnahme von 250 Menschen und einer abscheulichen propagandistischen Übertragung dieser Gräueltaten in die Weltmedien – und es bedarf nicht der geringsten Anstrengung oder Zeitverzögerung, Israelfeinde in den freien westlichen Gesellschaften wie ein großes Fremdenbataillon aus nützlichen Idioten und fanatischen Sympathisanten als vierte Welle zu mobilisieren und das mit einer klar definierten Aufgabe: Fortsetzen des Kriegs gegen Israel durch Stimmungsmache, Desinformation, Propaganda, Gewalt, Sympathiekundgebungen für die Hamas. Das Ziel: die vollständige Isolierung Israels und die Ausgrenzung, wenn nicht gar Vertreibung der Juden aus den westlichen Gesellschaften.

Man ist es ja fast schon gewohnt – obwohl man sich nicht daran gewöhnen darf –, dass Russland einen erheblichen schädlichen Einfluss auf große Teile der westlichen Gesellschaften hat, vor allem in Deutschland! Aber es ist ja nicht nur Russland, es sind auch der Iran und die Hamas, die ihre wohlfeilen Truppen Tausende Kilometer entfernt unmittelbar nach einem Massaker wie dem vom 7. Oktober in Gang setzen können. Und es hört einfach nicht auf. Die Kämpfe gehen weiter. Zuletzt wollten die Bundestagsfraktionen wenigstens eine Resolution zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland erarbeiten und verabschieden. Nun sieht es danach aus, dass daraus nichts wird. So ist die Lage.

VANITAS UND SCHAM

Wie aber ist die Lage in Israel? Die Menschen dort kennen die Hamas und die Hisbollah. In den letzten Jahren hat es nur wenige Tage gegeben, an dem nicht Raketen vom Norden oder Süden auf Israel abgeschossen wurden (nicht zu vergessen die gelegentlichen Attacken aus Syrien und dem Jemen). Die in Europa so geschätzte „Stabilität“ in Nahost sieht die meiste Zeit so aus: Hamas und Hisbollah beschießen israelische Siedlungen, und die Menschen in Israel steigen in ihre Schutzräume und hoffen, dass der Iron Dome die allermeisten Raketen abräumt. In Israel muss sich alles und immerzu um Sicherheit drehen, denn das Land ist von einem Feuerring aus Hass und Fanatismus umgeben. Die sogenannte Stabilität ist eine sehr existenzielle Frage. Kein Land in der Welt ist seit seinem ersten Tag des Bestehens von eliminatorischer Gewalt bedroht, von einem dauernden Kriegszustand, seit 76 Jahren. Während Deutschland sich seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine schon durch vage Andeutungen von Putin, er könnte seinen Zorn gegen Deutschland richten, in ängstliche Schwingungen versetzen lässt, müssen Israelis Nerven wie Drahtseile haben und eine unvergleichliche Lebenszuversicht und ein Weltvertrauen, die mehr sind als ein herkömmlicher Optimismus. Wenn es darauf auch schon viele Prüfungen gab, so hatte sich bis zuletzt nichts daran geändert. Bis zum 7. Oktober. Mit dem unvorhergesehenen Überfall der Hamas, den vielen Toten und Geiseln, ist ein Schock in die israelische Gesellschaft gefahren, wie sie nur eine Attacke solchen Ausmaßes erzeugen kann, denn zu viele Familien haben in der weiteren Verwandt- oder Bekanntschaft Opfer zu beklagen oder kennen Menschen, die direkt betroffen waren oder befürchten: „Es hätte auch uns treffen können.“ Die psychischen Folgen terroristischer Gewalt wie Schock, Trauer, Entsetzen, Wut, Verzweiflung und Zorn sind der israelischen Gesellschaft schon lange vertraut. Doch nun ist etwas Neues hinzugekommen.

Es gehört zur Strategie solcher Gewaltakte wie die vom 7. Oktober bzw. von Terror-Organisationen wie der Hamas, die ins Visier genommene Gesellschaft bis ins Mark zu erschüttern. Je größer die Attacke desto größer die Erschütterung. Aber hier ging es noch um zwei weitere Dinge: unbedingt eine Gegenreaktion zu provozieren und im Ausland konzertiert propalästinensische Proteste zu mobilisieren und antisemitische Aktionen zu initiieren.     

Der Terrorismus braucht die Medien jeglicher Art, er wirkt erst richtig durch das Wechselspiel von Propaganda und Berichterstattung. Nicht von Ungefähr wurden Terroristen mal als „moderne Entertainer“ bezeichnet. All dessen war sich die Hamas bewusst. Sie wussten, dass die Netanjahu-Regierung reagieren, ja, beim Versuch, die militärischen Strukturen der Hamas zu zerstören, um eine Wiederholung des 7. Oktober zu verhindern, heftig reagieren und die internationale Berichterstattung sich in Folge auf die vielen Toten, die Zerstörung und Verelendung im Gazastreifen konzentrieren würde. Denn so musste es kommen, da die Hamas in viele zivile Einrichtungen wie Schulen, Büros und Krankenhäuser große und kleine Kuckuckseier ihrer militärischen Strukturen gelegt hatte. Zusätzlich untergrub man den Gaza-Streifen mit einem Tunnelsystem fast pharaonischen Ausmaßes; sehr wahrscheinlich, dass diese Mittel bei den üppigen humanitären EU-Mitteln abgezweigt wurden. Dass die Hamas damit einen Blutzoll der eigenen Zivilbevölkerung in Kauf nahm und sogar herbeisehnte, war in den internationalen Medien nur am Rande Thema; auch dass sie mit Israels Regierung in Bezug auf die Geiseln Katz und Maus spielte. Diese waren von Anfang an ein strategisches Pfand, das bei Verhandlungen nach Gutdünken eingesetzt werden konnte oder auch nicht. Es gehört zu dem makabren und menschenverachtenden Verhalten der Hamas, dass sie Geiseln mit gedungenen Wortmeldungen auf Videos zur Spaltung von Israels Regierung und Gesellschaft einsetzten – bevor sie diese Geiseln skrupellos exekutierten. Dieser große Spalt zwischen Regierung und Gesellschaft existiert allerdings nicht erst seit dem 7. Oktober. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft hat nach dem Versuch der Netanjahu-Regierung, den Rechtsstaat umzubauen und die Demokratie zu schwächen, ohnehin kein rechtes Vertrauen mehr in Netanjahu und seine Minister – vor allem nicht in seine rechtsextremen Koalitionspartner Ben-Gvir und Smotrich. Ben-Gvir ist aktuell Minister für die öffentliche Sicherheit Israels. Ihm untersteht damit auch die Polizei, und er nutzt das weidlich, um Unruhen im Westjordanland zu schüren, indem er radikale jüdische Siedler nicht in die Schranken weist, vielmehr ermutigt, palästinensische Nachbarn zu schikanieren oder zu vertreiben. Mit der Drohung, die Koalition zu verlassen, wenn es nicht nach ihrem Willen geht, haben Ben-Gvir und Smotrich Netanjahu zu ihrer politischen Geisel gemacht. Gut möglich, dass ihm das aber zupass kommt, denn solange er Regierungschef ist, kann er nicht wegen Korruption vor Gericht gestellt werden.

Alle diese Umstände setzen der israelischen Gesellschaft arg zu. Zu dem Gefühl der Anspannung wegen des generationenübergreifenden Verteidigungskampfs gegen Todfeinde, der fortgesetzten Auseinandersetzungen mit Hamas, Hisbollah und Huthi sowie der Verzweiflung wegen des unbekannten Schicksals der einhundert noch in Gefangenschaft verbliebenen Geiseln macht sich wie in Mitteleuropa während des 30-jährigen Krieges Fatalismus und Vanitas  breit, ein Gefühl von Nichtigkeit und Vergeblichkeit. Damit nicht genug. Es kommt bei vielen angesichts der Opfer vom 7. Oktober ein schmerzhaftes Gefühl von Scham hinzu, je länger das Massaker zurückliegt. „Kommt deine Scham daher, dass du an Stelle eines anderen lebst?“, fragte sich Primo Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten, seine Zeit in Auschwitz erinnernd. Der Gedanke habe sich in seinem Innersten eingenistet wie ein Holzwurm, der nagt und bohrt.

Damit können die weitgehend risikofrei existierenden europäischen Wohlfahrtsstaaten nichts anfangen. Mehr noch als bei der Ukraine haben sie keine Geduld und kein Verständnis für das bedrängte Israel, es stört sie die Unruhe und Unsicherheit in ihrer Nachbarschaft, die Handel, Tourismus und Frieden beeinträchtigen könnten. Israel ist – wie die Ukraine – weiten Teilen der westlichen Gesellschaften ein lästiger Partner. Wenn man dann noch die althergebrachten Antisemiten von rechts und die willfährigen von links, die sich in ihrem Verständnis und ihrer Sympathie für Diktaturen im sogenannten „globalen Süden“ gerne überbieten, dazu rechnet, dann weiß man, wie überschaubar die Solidarität der liberalen Demokratien des Westens mit der einzigen liberalen und zudem bedrohten Demokratie im Nahen Osten ist. Diese Rest-Solidarität wird darüberhinaus seit Jahren von Intellektuellen, Medienmachern und sogenannten „Kulturschaffenden“, die der Ideologie des Postkolonialismus anhängen, systematisch unterminiert. In dieser Weltsicht sind die Rollen klar verteilt, oft verkündet und müssen hier nicht erneut wiedergegeben werden. Die Hamas und der Iran wissen ganz genau, wie unzuverlässig und beeinflussbar westliche Gesellschaften und damit deren Unterstützung von überfallenen Ländern wie Ukraine und Israel sind. Und wie wankelmütig, wenn eine Regierung so moralisch und politisch uninteger ist wie die Netanjahus, obwohl auch sie im Zweifelsfalle das richtige tun kann oder muss.

OPTIONEN FÜR FRIEDEN

Weil Israel ein kleines Land ist, rund um die Uhr und von allen Seiten von Judenhassern bedroht, ist es auf militärische Überlegenheit angewiesen. Die muss sich wegen der geringen Zahl der Einwohner und des ebenfalls engen Raums auf eine besondere geheimdienstliche Raffinesse und einen sehr produktiven militärisch-technologischen Komplex verlassen können. Und auf die USA. Und auf die eigene mutige Entschlossenheit. Das konnte es bisher. Und doch gibt es bei den Ereignissen vom 7. Oktober eine Parallele zum israelischen Versagen vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973: die Blindheit für die unmittelbare Gefahr durch Überheblichkeit. Die Netanjahu-Regierung glaubte das Land gegen ernste Attacken durch den Iron Dome, die Luftwaffe und ein engmaschiges Netz geheimdienstlicher und militärischer Aufklärung an der Grenze zum Gazastreifen gefeit. Auf der Seite der Diplomatie stand man kurz vor der Unterzeichnung des Abraham-Abkommens durch Saudi-Arabien, nachdem schon die Golfstaaten Vereinigte Arabische Emirate und Bahrein sowie der Sudan und Marokko diesen Weg des Ausgleichs und Friedens mit Israel gegangen waren. Als die Netanjahu-Regierung dann Einheiten vom Süden ins Westjordanland verlegte, weil die vor allem von radikalen israelischen Siedlern verursachten Unruhen dort immer schwerer einzudämmen waren, fand die Hamas ihr Momentum, um die Ausweitung des Abraham-Abkommens zu torpedieren und die kaum geschützte Grenze in Israels Süden zu stürmen. Deshalb auch das stundenlange Chaos auf israelischer Seite, bis die Attacke zurückgeschlagen werden konnte. Allerdings hatten sich da die meisten Kräfte der Hamas ohnehin schon mit Geiseln und Beute zurückgezogen. So war das angerichtete Massaker nicht nur eine Katastrophe, sondern auch eine Schmach. Nun verlässt sich Israel wieder auf seine Feuerkraft. Das ist verständlich. Aber damit kann man nur eine Schlacht (mit hohen Opferzahlen) gewinnen, allerdings keinen sicheren Frieden. Das ist in 76 Jahren nicht gelungen. Und es hilft in diesem Zusammenhang auch niemandem, darauf hinzuweisen, Israel allein wisse es am besten, wie man einen dauerhaften Frieden erreicht. Aber wissen wir es?

Aktuell deuten sich vier Optionen für einen – vielleicht – dauerhaften Frieden an: eine Zwei-Staaten-Lösung, ein resolutes und sehr robustes Konfliktmanagement, ein gemeinsamer föderativer Staat für Juden und Palästinenser, ein übermächtiges Israel und – in seinem Schatten – bloß ein paar geduldete residuale palästinensische Provinzen ohne Hoffnung auf Eigenstaatlichkeit.

Das letztere ist eine Vorstellung, die weitgehend von den rechtsextremen und nationalreligiösen Kräften in Israel verfolgt wird. Sie setzen auf Vertreibung der Palästinenser und träumen von einem Großisrael. In diesem Szenario bliebe den Palästinensern weitgehend nur die Auswanderung in Staaten wie Jordanien, Ägypten oder Syrien. Selbstverständlich haben diese Länder daran kein Interesse. Niemand könnte dieses unappetitliche Szenario akzeptieren. Es gäbe dafür auch keine Unterstützung, nicht in Israel, nicht im Ausland, nirgends. Es ist die düstere Vision einiger jüdischer Fanatiker, die von den Feinden und Gegnern Israels als realistisch betrachtet wird, weil damit die Bösartigkeit Israels bewiesen werden soll. Sie halten kontinuierlich daran fest, obwohl die sehr, sehr große Mehrzahl der Israelis es anders, nämlich als eine düstere Vision einiger jüdischer Fanatiker, ansieht, die keine Chance auf Realisierung hat.

Ein gemeinsamer föderativer Staat wird gerne ins Gespräch gebracht von linken Israel-Kritikern, die sich als gemäßigt oder neutral verstehen. Tatsächlich könnten sie als Zeugen einen renommierten Anhänger dieses Modells, den jüdischen Historiker Michael Wolffsohn, anführen. Doch obwohl sich Wolffsohn für diese Lösung des Nahost-Konfliktes oftmals mit großer Verve und einem Hauch von Verachtung für die Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung einsetzt, wird er sich gewiss nicht vor den linken Karren spannen lassen. Wenn man die „Gemäßigten“ und „Neutralen“ hört, dann wird auch schon die – salopp gesagt – Waghalsigkeit dieses Modells sichtbar: Die Juden wären in kürzester Zeit eine Minderheit in diesem Staat; ihr Land, ihre Souveränität würde aufhören zu existieren. Der Schriftsteller Amos Oz stellte vor einigen Jahren klar, dass er genau das nicht akzeptieren könne: als jüdische Minderheit unter arabischer Herrschaft zu leben. „Denn fast alle arabischen Regime im Nahen Osten unterdrücken und erniedrigen Minderheiten.“ Er bestehe zudem auf dem Recht der israelischen Juden, „wie jedes andere Volk die Mehrheit und nicht die Minderheit zu sein, und sei es auch nur auf einem kleinen Stückchen Land“ – mit klar definierten und gesicherten Grenzen, müsste man noch hinzufügen (und deshalb ist auch die Arabische Friedensinitiative von 2002 inakzeptabel, da sie auf ein Rückkehrrecht der Palästinenser pocht). Wolffsohn ficht das nicht an. Er argumentiert mit zwei Bundesrepubliken („Israel“ und „Palästina“, letzteres mit drei Bundesländern), vereint in einer Art durchlässigen Trennung. Die beiden Bundesstaaten Israel und Palästina sollen einen Staatenbund „Israel-Palästina“ als Wirtschafts-, Zoll-, Währungs- und Finanzunion verbinden. Wolffsohn glaubt, dass man die Todfeindschaft in den Griff bekommen kann. Aber Hass und Angst sind viel zu große Kräfte, als dass ein solches staatliches Gemeinwesen funktionieren könnte, weil dieser Staat auf einem Misstrauen basieren würde, der jede Zusammenarbeit konterkarierte. Jugoslawien und Zypern sind bei der erstbesten Gelegenheit auseinander geflogen. Und als die UNO versuchte, den türkischen und den griechischen Teil Zyperns wieder zu vereinen, verzichteten die griechischen Zyprer dankend, denn sie sahen für sich eher ökonomische Nachteile und waren wegen der starken türkischen Truppen auf der Insel um die eigene Sicherheit besorgt. Dabei sollte beachtet werden, dass Hass und Misstrauen zwischen Türken und Griechen geradezu homöopathisch sind im Vergleich zu denen zwischen Juden und Palästinensern. Vor allem beantwortet Wolffsohns Konzept nicht die einfachste Frage: Warum sollte sich der Staat Israel darauf einlassen und wie Biedermann die Brandstifter ins eigene Haus holen?

Seit Netanjahu an der Macht ist, versteift sich Israel auf ein Konfliktmanagement, das den Ausgleich – wie oben schon erwähnt – mit arabischen Ländern sucht. Er steht damit beispielsweise in der Nachfolge Menachem Begins, auch ein rechter Politiker, der Frieden mit dem Erzfeind Ägypten schloss – ein Frieden, der bis heute hält. Die zweite Säule dieses Konfliktmanagements ist eine hochgerüstete israelische Armee und ein rigides Grenzregime, das an vielen Orten zwar Sicherheit für die Israelis garantiert, andererseits aber starke Bewegungseinschränkungen für die Palästinenser im Westjordanland verursacht. Dieses Konfliktmanagement bot nach den Intifadas mit ihren vielen Selbstmordanschlägen einigermaßen Sicherheit für Israel; das machte glauben, ein interethnischer Konflikt ließe sich mit quasi militärischen Polizeimaßnahmen eindämmen, bis er sich ausgewachsen hätte. Aber nichts deutet darauf hin, dass sich die Bedrohung für Israel auswachsen könnte, solange der Iran sein perfides Spiel im Nahen Osten spielt und Hamas, Hisbollah und Huthi nährt. Der 7. Oktober hat gezeigt, dass Netanjahus Konfliktmanagement nur eine trügerische Sicherheit bot, denn Hamas und Hisbollah haben nichts von ihrem Vernichtungswillen gegen Israel eingebüßt. Dieser Irrtum Netanjahus kostete tausenden Menschen das Leben.

Bleibt noch die Zwei-Staaten-Lösung. Sie lebt immer noch von dem Nimbus, dass sie, bei allen Schwierigkeiten, durch die Verhandlungen und Interimsabkommen in den Jahren zwischen 1991 und 2001 erreichbar schien – bis die Hamas und der Islamische Dschihad gegen diese Annäherung in den Krieg zogen und Israel mit Terroranschlägen überzogen. Und das hat sich bis heute nicht geändert: Die Hamas lehnt weiterhin jeden Frieden mit Israel ab und auch die Zwei-Staaten-Lösung. Mittlerweile hat die Regierungsmehrheit in der Knesset auch jeden Gedanken an eine Zwei-Staaten-Lösung verworfen. Wer sich also für diesen Vorschlag erwärmt, muss einige Probleme aus dem Weg schaffen. Eines schafft die israelische Regierung – das gehört zu den nicht eben seltenen Paradoxien in der Politik – möglicherweise gerade selbst ab: nämlich die eklatante und fortgesetzte Bedrohung durch Hisbollah und Hamas. Sollte das gelingen – sicherlich nicht vollständig –, so gäbe es keinen starken Grund mehr, es nicht mit neuen Verhandlungen mit den eher „gemäßigten“ Palästinensern aus einer Position der Stärke heraus ernsthaft zu versuchen, um zum ersten Mal aus einem Sieg einen Frieden zu gewinnen. Sollte der Abnutzungskrieg gegen Hamas und Hisbollah (und Iran) in einer Art misslingen, die den Blutzoll auf Seiten der Israelis dermaßen in die Höhe treibt, dass Netanjahu sein politisches Überleben unmittelbar in Gefahr sehen muss, dann wäre er zunächst auf eine Rettung durch die USA angewiesen, die der von 1973 ähneln würde, als Israel am Abgrund stand. Netanjahu sollte auch nicht zu sicher sein, dass Trump ihn, würde dieser am 5. November die Wahl gewinnen, ohne Bedingungen aus der Patsche hülfe. Allerdings ist anzunehmen, dass ein Politiker wie Netanjahu nicht verstehen kann, dass Macht blind macht für die eigene Ohnmacht und dass große Macht diesen Defekt noch verstärkt. Letztlich wird es die eigene Bevölkerung sein, die ihm seine Hybris klarmachen muss. Aber es ist ihm auch zuzutrauen, dass er im letzten Moment erkennt, dass er seine Macht dadurch retten kann, indem er eine Friedensinitiative ergreift, auch auf die Gefahr hin, dass die Rechtsextremen die Koalition verlassen. Es kommt, wie immer, auf die Umstände an.

So oder so, es bräuchte für eine mögliche Zwei-Staaten-Lösung eine starke internationale Initiative bzw. Unterstützung, d.h. ein loses Bündnis aus Ägypten, den „Abraham-“ und weiteren arabischen Staaten, die zusammen mit den USA und europäischen Staaten wie Frankreich, UK, Deutschland, Niederlande und Polen (Spanien, Belgien, Norwegen kann man wegen ihrer Aversion gegen Israel vergessen) Sicherheitsgarantien für Israel geben. Man könnte einwenden, Netanjahu wäre niemand, der Sicherheitsgarantien von bekannten unsicheren Kantonisten wie zum Beispiel Deutschland vertraut. Aber eine Schwächung Israels würde diese Situation völlig verändern.

Was auf jeden Fall enden müsste: Jede direkte und indirekte Unterstützung für das Hamas-Regime im Gazastreifen, egal wie stark es noch wäre. Nur noch kontrollierter, ziviler Aufbau bei gleichzeitiger Entwaffnung der Hamas. Und die Hamas muss ihrem Daseinszweck, der Vernichtung Israels, endgültig abschwören. Das alles wäre utopisch? Vielleicht. Aber es muss sein. Dem palästinensischen Hass müssen die Waffen aus der Hand geschlagen werden. Gaza soll sich vollständig auf den Aufbau eines prosperierenden Gemeinwesens konzentrieren. Und Israel müsste die Siedlungen im Westjordanland weitgehend zurückbauen. Viele bezweifeln, dass dies noch geht. Wenn dafür ein dauerhafter, garantierter Frieden gesichert würde, wäre der Wille vielleicht ein anderer.

Der Frieden ist ein Traum, so wie die jüdische Heimstatt einst ein Traum war und jetzt Realität. Aber der Traum ist noch nicht vollendet.

Am 7. Oktober filmte im Kibbuz Be’eri einer der Hamas-Kämpfer mit seiner Bodycam, wie er am Eingang eines Hauses einen handgemachten Traumfänger sieht, ein Kultobjekt, das böse Träume bannen soll. Bevor er weitermachte mit dem Morden, ging er zu dem Haus, nahm sein Feuerzeug und zündete den Traumfänger an. Er wird auch damit die schönen Träume Israels nicht zerstören können.

Empfehlungen:

Ron Leshem: Feuer – Israel und der 7. Oktober, Berlin 2024

Lee Yaron: Israel, 7. Oktober, Frankfurt a.M. 2024

Cheryl Sandberg: Screams Before Silence, https://www.youtube.com/watch?v=zAr9oGSXgak