Russland hat die Ukraine überfallen und führt einen brutalen Krieg gegen das Land. Trotzdem zeigen viele Deutsche Verständnis für Putins Regime. Warum ist das so?

Neunhundert Tage sind vergangen, seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, um die Eigenständigkeit dieses Landes und die Freiheit seiner Bürger abzuschaffen und es in einen Satrapenstaat zu verwandeln, wenn nicht sogar in das Hoheitsgebiet Russlands einzuverleiben. Neunhundert Tage sind vergangen, in denen der Westen darum ringt, in welchem Umfang er der Ukraine beisteht, weil er es im eigenen Interesse und aus Gründen der Menschlichkeit und der Vernunft nicht zulassen darf, dass ein freies Land in Europa angegriffen, die völkerrechtsbasierte Ordnung mit Füßen getreten und jede schutzlose ukrainische Stadt durch russische Raketen in einen Schlachthof verwandelt wird. Neunhundert Tage sind vergangen, in denen Russland von großen Teilen der deutschen Bevölkerung und einigen Parteien trotzdem in Schutz genommen wird, weil… Ja, warum eigentlich?

SELTSAME GRÜNDE

Es gibt viele Gründe, die vorgebracht wurden und werden, aber fangen wir mit dem Evergreen an:

Die NATO ist schuld. Die NATO ist irgendwie immer schuld, wenn Russland seinen imperialistischen Gelüsten frönt. Weil ja jenseits der russischen Grenzen irgendwo die NATO sei, müsse demzufolge das Gebiet Russlands immer weiter ausgedehnt werden, damit die NATO da nicht sein könne. So kommt man allerdings den Staaten der NATO immer näher. Ein schlimmer Verdacht: Kann die Sicherheit Russlands gar nicht gewährleistet werden? Doch, sie ist es schon. Denn die NATO hegt keinerlei Aggression gegen Russland. Deshalb wollte zum Beispiel Frankreich vor wenigen Jahren Russland schwere Kriegsschiffe verkaufen. Erst nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des Angriffskrieges auf die noch freie und souveräne Ukraine, sah sie davon ab. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, und das ist sie so sehr, dass sie ihre Armeen in den letzten dreißig Jahren größtenteils bis zur Unkenntlichkeit und Unfähigkeit geschrumpft hat. Deutschland war da besonders erfolgreich, seine Verteidigungsfähigkeit dürfte aktuell bei wenigen Wochen liegen. Gleichzeitig verabschiedete sich Russland aus den Verhandlungen über einen neuen START-Vertrag zur Begrenzung der Atomwaffen. Und seit 2014 baut das Land seine Exklave Kaliningrad zu einer riesigen Abschussrampe für Atomwaffen aus. Nebenbei, bis zum Jahr 2024 betrug die gemeinsame Grenze Russlands mit den sehr bedrohlichen NATO-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen und Norwegen rund Tausend Kilometer (den Oblast Kaliningrad inbegriffen) – bei einer Gesamtlänge der russischen Landgrenzen von ca. 22.400 Kilometern. Jetzt ist Finnland mit seiner gemeinsamen Grenze zu Russland hinzugekommen. Die Bedrohung scheint für Russland aber nicht gewachsen zu sein. Große Teile der russischen Truppen an dieser Grenze zogen ab – sie wurden dafür gebraucht, die Ukraine zu unterwerfen. Stattdessen befördert Russland Migranten an die Grenze, damit sie illegal nach Finnland einwandern.

Russland hat die Bombe. Damit begeben wir uns in das Reich höherer Dialektik, eine Zickzackdialektik quasi. Denn weil Russland die Bombe hat, habe es auch die Eskalationsdominanz, wie der Politikwissenschaftler Johannes Varwick und seine Nachbeter aus Politik und Publizistik immer wieder versichern, und deshalb könne die Ukraine ohnehin nicht gewinnen, was sie endlich einsehen solle. Wenn aber Russland die Bombe hat und unbesiegbar ist, warum sollte sich das riesige Land dann vor der NATO fürchten? Ist es vielleicht wegen der Geschichte? Afghanen und Vietnamesen haben sich bekanntlich gegen Atommächte ganz konventionell durchgesetzt und würden über Hallenser Professorenthesen schmunzeln. Dann ist also die NATO doch eine Gefahr für Russland? Nein. Das weiß auch Putin. Er hat vor allem eins zu fürchten: den Ruf nach Freiheit in seinem eigenen Land. Denn die Ukraine will auch gar nicht so etwas wie „gewinnen“. Die Ukraine will die russischen Truppen runter von ihrem Territorium, sie will ihr vollständiges Land zurückhaben und in Frieden und Freiheit leben.

Russland hat besondere Interessen, die berücksichtigt werden müssen. Jetzt wird es richtig „spooky“. Diese besonderen russischen Interessen sind nämlich noch nie gesehen worden. Sie sind so etwas wie der Yeti der internationalen Politik. Einfache russische Interessen gibt es allerdings schon: die bisherigen fünfhundert Jahre russischen Imperialismus ungehindert fortsetzen können!

Deutsche Panzer auf russischem Boden! Nur wer geschichtsvergessen sei, der könne hinnehmen, dass deutsche Panzer in Russland eindringen. Diese „deutschen“ Panzer werden allerdings nicht von deutschen Soldaten gelenkt, es fehlen auch deutsche Hoheitszeichen, es gibt keinen deutschen Marschbefehl, kein Unternehmen Barbarossa 2.0, es flötet auch keiner den Walkürenritt vor Kursk. So wie bei deutschen Panzerhaubitzen und LKWs und PATRIOT-Systemen. Aber egal, „deutsche Panzer“ – und wenn sie schon fünfzig Jahre Friedendienst auf dem Buckel haben – sind irgendwie immer noch nazi, und Russland ist immer noch das Opfer dieser rasselnden gepanzerten Untoten. Was fehlt, das sind die richtigen Schlagzeilen, zum Beispiel: „Deutsche Komponenten in russischen Waffen, die die Sanktionen umgingen, zerstören ukrainische Kirchen, Krankenhäuser und Supermärkte.“

Die Sanktionen müssen ein Ende haben und die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland normalisiert werden. Lenin soll gesagt haben: Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen. Aber das ficht deutsche Politiker von Weidel über Wagenknecht bis Kretschmer nicht an, sie wollen reibungslose Geschäfte mit dem russischen Aggressor, der der Ukraine mit der Auslöschung droht, Deutschland mit der Bombe und dem Westen mit dem Untergang. Vielleicht hatte Lenin irgendwie recht und er hat den Verstand und den Charakter bestimmter deutscher Politiker und Unternehmer des Jahres 2024 vorhergesehen.

Diplomatie statt Waffen! Putin höchst selbst hat bestätigt, dass sich die Ukraine mit ihrem Vorstoß auf russisches Gebiet einen Vorteil bei Verhandlungen verschaffen will. Er weiß wovon er spricht. Er ist ganz vielleicht für Verhandlungen, wenn er sich so viel wie möglich vom ukrainischen Territorium einverleibt hat, welches er nicht mehr hergeben will. Er macht ja keinen Hehl daraus. Für regelmäßige Desinformation hat er ja seine weitverbreiteten Fürsprecher in der deutschen Parteienlandschaft.

Keine Waffen mehr an die Ukraine! So schallt es in einem großen Bündnis der eben schon genannten Personen (und von der gerade zerfallenden Linken): Das würde angeblich den Krieg friedlich beenden, und es könnten mehr Mittel in die Sicherheit Deutschlands investiert werden. Klingt interessant, ist aber nichts als Blendwerk. Denn eine Beendigung der Unterstützung der Ukraine wäre das Ende der Ukraine, eines souveränen, freien Landes. Millionen Bürger würden verständlicherweise vor der russischen Knechtschaft in den Westen fliehen. Putin hätte noch mehr Grenzgebiete mit NATO-Ländern, vor der er sich angeblich fürchtet. Man würde in einhelliger deutscher Einfalt Abrüstung in Deutschland fordern und den Ausstieg aus der NATO, während Russland weiter aufrüstet – es gäbe also als Belohnung für die fortgesetzte Aggression Russlands ein fortgesetztes Entgegenkommen gegenüber Russland. So wie bisher auch schon. Da ist man konsequent. Denn man hat nicht nur von der Ukraine gefordert, gelieferte Waffen nicht zur Vorwärtsverteidigung zu nutzen, obwohl sie den Waffennachschub in Russland stören könnten; man erwartet auch, dass man die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland unterlässt, obwohl sie die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit verbessert. Man will also gar nicht mehr Mittel in die Sicherheit Deutschlands investieren. Vielleicht denkt man in den einschlägigen Kreisen wenigstens daran, die Zahl der Soldatenhelme um einige Tausend zu erhöhen. Das würde die Eskalationsdominanz Russlands gewiss nicht beeinträchtigen, käme den besonderen Interessen Putins entgegen und wäre eine Demutsgeste, die in die Geschichte der Menschheit eingehen würde.

FEINDLICHE ALLIANZEN

Warum aber nur dieses Verständnis und diese Sympathien für Putins Russland, warum bloß? Ein wenig hat es mit der alten „German Angst“ zu tun, die sich ja auch vor Chlorhühnern und Chemtrails fürchtet. Irgendwas ist immer, das die deutsche Seele belastet. Und das weiß der Deutsch sprechende, sadistische alte Fuchs im Kreml ganz genau und drückt immer wieder die Triggertaste, um den Deutschen Angst zu machen.

Vor allem aber ist Putin für viele – im Osten wie im Westen – attraktiv und anschlussfähig gerade wegen seiner repressiven Politik, der Ablehnung von Moderne und Individualismus, wegen seines reaktionären Familienbildes, seiner Queerfeindschaft, seinem toxischen Männlichkeitsbild, seines völkischen Denkens, seines Antiamerikanismus, seiner Verachtung für die Freiheit und die Demokratie. So einem sieht man alles nach, so einem lässt man alles durchgehen. Wir sollten uns daher nicht über die Amis erheben, die Trump für einen tollen Typ halten und ihm die Stimme geben. Das verbindet die AfD mit dem BSW und mit Putin: die Ablehnung aller Überzeugungen und Ideen, für die der Westen steht. Auch Feindschaft schafft Allianzen.

Noch etwas kommt hinzu: Diese antidemokratischen Kräfte wollen Deutschland aus dem Westen lösen und wünschen sich ein unverbrüchliches, ewiges Rapallo, eine Übereinkunft zwischen Russland und Deutschland, gute Geschäfte an den Interessen der gemeinsamen Nachbarstaaten vorbei und die Spaltung der EU. Sie erteilen Russland einen Persilschein für jegliches Tun, für jede Aggression, jede Lüge, jede Indoktrination, jede Infiltration, jede Sabotage, jede Spaltung, jeden staatlichen Mord. Wenn wir sie damit durchkommen lassen, wäre es das Ende der Welt, wie wir sie kennen und in der wir gut und in Frieden und Freiheit leben können.