Es gibt viel zu erzählen. Aber Gehalt braucht nicht zwingend die lange Form. Gerade ist ein Buch erschienen, das dies beweist und dem man durch vertrautes und unbekanntes Gelände gerne folgt.

Ein Schriftsteller muss schreiben. Was soll er auch sonst tun: halbtags puzzeln oder auf TikTok Sneaker bewerben? Das tut er nicht. Er schreibt. Aber nicht immer nur Romane oder Theaterstücke. Da ist auch noch Raum zwischen den großen Werken: Da sind ständig Ideen, die sich der narrativen Verwertung entziehen; da sind laufend Beobachtungen, die für Postings zu schade wären; da sind unentwegt kulturelle oder philosophische Betrachtungen, die für einen Essay zu kurz und einen Aphorismus zu lang sind; da sind fortwährend Impromptus, die eines Publikums wert sind, aber in der Klause keinen Hörer oder Leser finden. Gerade in einer Zeit, in der das Fernsehen durch intelligente Serien episch und die Literatur in Familiengeschichten und Egobetrachtungen langatmig wird, könnten Sammlungen mit solchen Literaturhäppchen vielleicht einen Marktplatz bekommen. Vielleicht.

Der Schriftsteller Jochen Schimmang ist in diesem Genre fast schon ein alter Hase. Sein neuestes Buch Abschied von den Diskursteilnehmern  ist schon das dritte in dieser Gattung der raffinierten Nebenprodukte und literarischen Kleinanzeigen nach Vertrautes Gelände, besetzte Stadt  und Grenzen Ränder Niemandsländer  – und wenn der Band auch schmal geraten ist, so empfiehlt sich doch die Lektüre sehr. Wenn man diesem Genre einen Namen geben wollte, so böte sich Journal  an, was aber auf keinen Fall mit einem Tagebuch  verwechselt werden darf. Max Frischs Tagebücher  waren auch keine, sie waren üppige Wundertüten voller Geschichten und Einfälle und seinen großen Romanen ebenbürtig. Schimmang nennt sein Buch im Untertitel Neue Geländegänge, und damit ist der Ton angeschlagen. Seine Gelände, durch die er sich behend bewegt, sind Diskursräume, wo modische Phrasen und deutsche Provinzialität sichtbar werden, im Gegensatz zur Provinz als poetische Orte des Erinnerns und des Verschwindens. Schimmang ist ein Autor, der sein eigenes Verschwinden im Blick behält. Er denkt „zunehmend lebensnäher über das eigene Sterben nach“. Doch das Bedauern wird seltener, und das Gefühl der Entlastung immer häufiger: Denn die Welt von gestern verschwindet noch schneller als das Ich und taugt nicht zur Nostalgie, nur zur berückenden Erinnerung. Schließlich ist das Verschwinden eine nicht ganz nebensächliche anthropologische Konstante, doch bekämpft Schimmang sie nicht wie so manch anderer seiner Generation mit einer juvenilen Ranschmeiße an die Radikalität der Straße, den Populismus der sozialen Medien und das moralische Pathos der Universitätsseminare. Diese Phase hat er seit den siebziger Jahren hinter sich gelassen, als er für einige Jahre Mitglied einer linksradikalen Sekte war. Wo? Natürlich in Berlin. Wo Provinzialität und modische Phrasen seit jeher die Diskurse bestimmen. Das schaut er sich schon länger nur noch aus der Ferne an. Also Zeit, die Zeitgenossenschaft endlich zu kündigen und die Mitwelt ziehen zu lassen.

Dabei war Schimmang viele Jahre in seinen Büchern ein Chronist der Bundesrepublik, allerdings ein Chronist kleiner Gegenentwürfe, mit einer unleugbaren Sympathie für die Bonner Republik. Das war nicht immer fair gegenüber dem Gemeinwesen, dass wir seit 1990 haben. Das Land ist nicht besser geworden, aber anders. Das hat auch viel mit den neuen Nachbarn jenseits der Oder zu tun, denen wir durch ihre Kreativität und Vitalität wahrscheinlich mehr zu verdanken haben, als wir glauben möchten.

EINE REIHE VON PERLEN

Schimmang ist ein philosophisch gebildeter Autor, dem auch milder Humor (in seiner intellektuellen Spielart) nicht fremd ist. Das lässt sich schön in einer kurzen Doppelbiographie über Michel Foucault und Roland Barthes erleben, die er quasi als Zweikampf um seine Seele am Anfang des Bandes inszeniert – und es ist nicht zu viel verraten, wenn hier Barthes als Sieger genannt wird, dem mit einem Zitat ohnehin die Mentorschaft über das Buch verliehen wird.

Weitere Perlen des Bandes sind die erhellenden biographischen Skizzen über Horst Mahler und Johannes Vermeer. Wobei Mahler für die gemeingefährlichen politischen Irrwege mancher 68er bzw. Linker steht und Vermeer für die Kunst, die es vermag, in Bildern durch und durch menschliche „Momente der Ewigkeit“ festzuhalten. Auch hier ist die Sympathie klar verteilt: beim Künstler und nicht beim politischen Wirrgänger.

Warum dieses Buch lesen? Ganz einfach, weil es klüger macht und kritischer gegenüber den Phrasen in angesagten Diskursen – und um sich auch an der gelassenen, gepflegten, manchmal ironischen, melancholischen und poetischen Sprache zu erfreuen. Immer wieder blitzen in Schimmangs Buch kleine Erinnerungsstücke auf, und diese können so verzaubernd sein, dass ihr Verschwinden ein Verlust wäre. Gut, dass es die Literatur gibt und das Verschwinden vorläufig vereitelt.

Es endet schließlich wie ein Lebensroman mit einer Erinnerung, und weil dieses kleine Stück Prosa so schlicht und so schön ist, endet auch diese Rezension damit:

„Terrain vague: Gestern, jenseits des Gewerbegebiets, in der Graswildnis ein Trampelpfad, der zur Autobahnauffahrt führt. Sehr deutlich, als ein plötzliches Aufblitzen, die Erinnerung an die Gestimmtheit von damals, vor sechzig Jahren; er ist fünfzehn und auf einer anderen Brache unterwegs, zwischen verwilderten Gärten und einer Baustelle. Er stellt sich die Frage, ob er Landstreicher werden soll oder Schriftsteller, Molloy oder sein Autor. Oder ob – im Niemandsland – sogar beides ginge. Sehnsucht nach diesem Augenblick. Wissen, dass sie nicht erfüllt werden kann.“

Jochen Schimmang, Abschied von den Diskursteilnehmern, Neue Geländegänge, Edition Nautilus, 120 Seiten, 20 Euro